Easy Rider oder Der Zahn der Zeit

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Diesen Moment hatte er herbei gesehnt. Er zog noch einmal kräftig an seiner Zigarette, schnippte die Kippe auf die Bahngeleise und drehte sich um. Es war eine heiße Sommernacht und er war frei. Für vier Wochen fuhren seine Frau und seine beiden halbwüchsigen Kinder zu den Großeltern in die Ferien.
Eigentlich war er kein Familienmensch. Früher zog er mit seinen Kumpels regelmäßig um die Häuser und hatte mit dreißig Jahren seinen Lebensbedarf an Alkohol schon verbraucht. Erst als das erste Baby unterwegs war, verkaufte er seine Harley und schaffte einen Kombi an. Seine Lederkluft mit dem lachenden Totenkopf auf dem Rücken verstaute er in einer Truhe im Keller. Sein Bekanntenkreis änderte sich, nachdem der erste Sohn in den Kindergarten kam und die Kontakte zu seinen alten Freunden einschliefen. Ohne Zweifel standen jetzt seine beiden Kinder und seine Frau im Mittelpunkt seines Lebens.
Seit ein paar Wochen ging ihm alles auf die Nerven. Der Älteste stand vor der Pubertät und der Jüngere war im Flegelalter. Nie war es auch nur eine Sekunde still im Haus. Radio und Fernseher liefen gleichzeitig. Dazwischen das Telefon und die lautstarken Streitereien seiner Söhne. Er musste sich eingestehen, dass er lieber ins Büro ging, als die täglichen Turbulenzen zu Hause zu ertragen.
Rasch ging er zu seinem Auto. Als er den Zündschlüssel umdrehte bemerkte er, dass ein Ticket unter seinem Scheibenwischer klebte. „Die Freiheit fängt ja gut an“, dachte er und fuhr los.
Es war nicht weit bis zu seinem Haus. Er parkte sein Auto in der Garage und ging den schmalen, gepflasterten Weg zur Eingangstür. Er schloss auf und trat ein. Eine stille Leere empfing ihn. Im Wohnzimmer schnippte er die Schuhe auf den Teppich und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Eisschrank. Weil es im ganzen Haus keinen Aschenbecher gab holte er sich einen Teller aus der Küche. Bevor er den Fernseher anmachte, ging er in der Wohnung umher, schaute in die beiden Zimmer von Tobias und Marek. Sie waren aufgeräumt. Niemals würde seine Frau das Haus verlassen, wenn nicht alles glänzte und an seinem Platz war. Er zog tief die Luft ein und fühlte sich gut. Kein Radio hämmerte ihm Bässe ins Gehirn, keine Zankerei. Es war, als würde ein Gürtel um seiner Brust um drei Löcher weiter werden.
Es war still und leer. Er setzte sich in seinen Sessel und versank in der Ruhe. Etwas später machte er den Fernseher an und zappte durch die Programme.
Gegen zwei Uhr hatte er drei Flaschen Bier und drei Schnaps getrunken. Die Sendungen fingen an ihn zu langweilen und er schaltete ab. Dann setzte er sich in den Garten und schaute in den sternenklaren Himmel. Sein Herz wurde schwer. Er musste an die Schulaufführung vor den Sommerferien denken. Wie stolz war er, seine beiden Söhne auf der Bühne zu sehen. Auch an die letzte Radtour, als ihn die beiden locker abgezogen hatten, dachte er und an die vielen Kindergeburtstage. Langsam schlich sich das Gefühl der Freiheit davon und zog eine gewisse Schwermut nach. Die vier Bier und Schnaps machten ihn müde.
Er entschloss sich schlafen zu gehen. Zuvor schaute er noch mal in die Zimmer seiner Kinder und stellte die Schuhe, die er so lässig in das Wohnzimmer geschnippt hatte, auf ihren Platz im Flur. Dann machte er sich fertig und ging schlafen.
Das erste Mal wurde er gegen drei Uhr wach. Er fasste neben sich ins Leere. Es dauerte eine Weile bis er begriff. Dann schlief er wieder ein. Eine Stunde später wurde er wieder wach. Er knipste das Licht an und schaute in das leere Bett.
Weil er nicht mehr einschlafen konnte, wanderte er durch die Wohnung und schaute wieder in die unberührten Betten. Er ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Gegen fünf Uhr entschloss er sich zu rasieren und zu duschen. Die Ruhe im Haus fing an ihn zu bedrücken. Jetzt war die Zeit, wo allmorgendlich das Haus erwachte und seine Frau mit endlosen Aufrufen die Jungs aus den Betten trieb. Ein täglich wiederkehrendes, zähes Ringen.
Als es sechs Uhr war, rief er seine Frau an. Es dauerte eine Ewigkeit bis sie sich meldete:
„Hallo, wer ist da?“
„Ich bin es“, sagte er.
„Was ist los, weißt du wie spät es ist?“
„Ja, es ist sechs Uhr“
„Hast du den Verstand verloren? Es sind Ferien. Hier schlafen alle noch. Was willst du?“
„Kannst du mir sagen wo meine rot-weiß-gestreifte Krawatte ist?“ fragte er.
„Du rufst mich morgens um sechs Uhr an, um nach einer Krawatte zu fragen?“
„Nein, ja, eigentlich wollte ich nur wissen ob ihr gut angekommen seid.“
„Was ist los, geht es dir nicht gut?“
„Ich weiß auch nicht was los ist. Ich vermisse euch.“
Es knackte in der Leitung. Seine Frau hatte aufgelegt.
Im Büro versuchte er für den Abend ein paar Kollegen zu animieren. Sein Vorschlag, eine Bar zu besuchen, fand kein Interesse. Er bekam nur eine Eventuellzusage für den nächsten Tag. Am Nachmittag ging er in den Keller und kramte aus der Truhe seine alte Lederjacke hervor. Seine intensiven Bemühungen sich in sie zu zwängen blieben erfolglos. Trotzdem rief er ein paar seiner alten Kumpels an.
„He Leute, es ist Sommer, die Nächte sind heiß und die Bräute warten. Lasst uns mal wieder ein Fass aufmachen. Wie in alten Zeiten.“
Alle fanden die Idee super. Nur - alle waren irgendwie verhindert.
Schließlich gab er auf und ging an den Eisschrank. Gegen zweiundzwanzig Uhr hatte er eine Packung Zigaretten geraucht und sechs Bier und sechs Schnaps getrunken.
Die dröhnende Stille am nächsten Morgen weckte ihn. Mit schwerem Kopf wankte er ins Bad. Dann packte er ein paar Sachen. Er fuhr zum Bahnhof und erwischte gerade noch den ersten Zug. In seinem Abteil saß eine Frau, die versuchte ihre drei lärmenden Kinder unter Kontrolle zu bringen. Er machte es sich auf seinem Platz bequem, lächelte und schlief sofort ein.

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