Moselfeuer

Krimi

Heinz Decker griff sich mit beiden Händen an den Hals. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine versagten und er stürzte auf die frisch gebohnerten Holzdielen. Zwei Minuten später war er tot. Margot blieb noch eine Weile an dem runden Tisch sitzen. Aufmerksam hatte sie beobachtet wie er das Glas mit dem Kräuterlikör in einem Zug leerte. Sie stand auf, nahm die Flasche und das leere Glas und schaute der Leiche in das rot verzerrte Gesicht. Die verschwitzten blonden Haare klebten über den offenen Augen.

„Glückwunsch zu deinem dreißigsten Geburtstag, du Schwein“, sagte sie und verließ das Zimmer.
Gegen einundzwanzig Uhr ging Sie in den Garten, machte mit dem Spaten ein Loch und vergrub die Flasche und das Glas. Anschließend schob sie seine Horex mit Beiwagen in den Schuppen. Dann ging sie wieder ins Haus und wartete auf ihren Lebensgefährten Baron Nikolay Luschkow, der mit ihrer dreijährigen Tochter Margaretha unterwegs war.
Es war schon fast dreiundzwanzig Uhr als Margot und der Baron die Leiche in den Beiwagen packten. Sie fuhren unbeleuchtet auf der Landstrasse in Richtung Kaisersesch, bogen aber bald in einen Waldweg ab und vergruben die Leiche in einer Fichtenschonung. Danach setzte er Margot wieder in der Villa ab und fuhr weiter. Er wollte die Horex in Deckers Scheune abstellen und Margot sollte ihn dort abholen. Nach zwanzig Minuten war er am Ziel. Er machte das Licht an dem Motorrad an, um sich in der Scheune orientieren zu können und schob es hinein.
Sergeant Ron Allen war in den frühen Abendstunden mit dem 106. Geschwader der Royal Air Force in Ostengland gestartet. An Bord seiner zweimotorigen Hampden hatte er Brandbomben. Die Flieger hatten gute Sicht und den größten Teil ihrer tödlichen Fracht schon über Köln abgeworfen. Sie drehten eine große Schleife und waren auf dem Rückflug, als Ron Allen vor sich ein flackerndes Licht am Boden sah. Er glaubte, es wäre eine Flak der Luftabwehr, nahm das Ziel ins Visier und löste die Thermitbombe aus. Es war nicht sehr wahrscheinlich ein so kleines Ziel zu treffen. Aber er hatte Glück. Das Licht, das schwach am Boden funzelte wurde schlagartig zu einem grellen Lichtkegel. Bingo, dachte er leidenschaftslos und flog weiter…
Das Sirren der Bombe konnte der Baron wegen des laufenden Motors nicht hören. Sie durchschlug das morsche Dach und entfesselte ein Inferno. Innerhalb weniger Minuten war alles von den Flammen aufgefressen. Der Baron verbrannte nahezu rückstandsfrei. Auch die wertvollen Ikonen, die stabelweise unter dem Stroh versteckt waren, wurden Opfer der Flammen. Seine Reste wurden neben dem Motorrad gefunden und für die Polizei stand fest: Heinz Decker, Bürgermeister von Hambuch, wurde ein Opfer der Bombenangriffe. Die Beisetzung fand zwei Tage später statt. Deckers Witwe stand mit ihrem dreijährigen Sohn Heribert am Grab. Sie war sehr gefasst. Unter den vielen Trauergästen war auch Margot Helmer, die so heftig weinte, dass sie gestützt werden musste.



Am Sonntag dem 27. Oktober 2002 fegte um dreizehn Uhr der Orkan Jeanette mit einer Geschwindigkeit von einhundertvierzig km/h über die Eifelhöhen. Zuvor hatte es tagelang geregnet. Der Waldboden war bis zur Sättigung durchfeuchtet und bot den flachen Wurzeln der alten Fichten nur noch wenig Halt. Der Sturm drückte sie immer tiefer, bis die Wurzeln mit einem Knall abrissen. Dabei wurden Erde, Moos und ein Skelett wie von Peitschen in die Luft geschleudert und verteilten sich im Umkreis von fünfzehn Metern. Die Forstverwaltung forderte das THW an, die mit ihren Motorsägen die Fahrwege frei schnitten.
Hauptkommissar Heribert Decker war Junggeselle und zweiundsechzig Jahre alt. Zwölf davon hatte er auf seiner Dienststelle in Kaisersesch verbracht. Seine blonden Haare waren schütter und er trug eine kleine Bierwampe vor sich her. Sein rotes Gesicht zeigte, dass er, außer mit seinem Gewicht, auch mit Bluthochdruck zu kämpfen hatte. Er war ein leidenschaftlicher Angler und Jäger und zählte die Monate bis zu seiner Pensionierung. Kommissar Willi Fritsche trat in das Büro, gerade als Decker seinen Mantel auszog.
„Morgen Harry, wir haben eine Leiche“.
„Das liebe ich“, knurrte er, „gleich Montags früh so was.“
„Eigentlich ist es keine Leiche, eher ein Skelett oder was davon übrig ist.“
„Kannst du dich etwas klarer ausdrücken?“
„Gestern haben die Männer vom THW in der Nähe der Villa Margaretha Teile eines Skeletts entdeckt. Ein Schädel und sonst noch ein paar Knochen.“
„Und weiter?“
„Nichts weiter, Wir sollten uns das mal anschauen.“
Als Decker und Fritsche an der Fundstelle ankamen war das Skelett fast vollständig gefunden.
„Was hältst du davon Harry?“ fragte Fritsche.
„Schwer zu sagen. Die Gerichtsmedizin muss feststellen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt und woran er oder sie und wann gestorben ist. Vielleicht können wir auch über die DNA etwas erfahren. Wenn wir wissen, wie alt das Skelett ist, müssen wir mal schauen ob wir irgendwelche Vermisste in dem Zeitraum hatten.“
Es war kühl. Decker hatte kalte Füße und war froh als sie wieder im Auto saßen.
„Lass uns in der Villa Margaretha noch einen Kaffee trinken“, schlug er vor. Die ehemalige Villa, wurde nach dem Krieg zu einer Gaststätte umgebaut und von Margot Helmer und ihrer Tochter Margaretha betrieben. Die Stühle standen noch vom Vorabend auf den Tischen. Margaretha fegte gerade den Boden. Es roch nach schalem Bier und kaltem Rauch.
„Hallo Margaretha. Können wir schon einen Kaffee haben?“ fragte Decker.
„Morgen Heribert, da müsst ihr einen Moment warten. Was macht ihr denn so früh im Wald?“
Sie war die einzige, die ihn noch Heribert nannte. Sie war so alt wie Decker, aber größer und schlanker. Obwohl ihr Haar grau war, wirkte sie durch ihre Bewegungen jünger als er. Sie gingen zusammen zur Schule und er liebte sie, seit er denken kann. Dass sie trotzdem nie zusammen kamen, schrieb er ihrer Mutter zu, die ihn ablehnte, so sehr er sich auch bemühte.
„Mutter machst du zwei Kaffee, nein drei, ich trinke auch einen“, rief sie in die Küche.
„Wir haben ein Skelett gefunden, ganz in euerer Nähe“, sagte Fritsche.
„Ein Skelett, ein Mensch? Mann oder Frau?“
„Das wissen wir noch nicht. Die Knochen kommen erst in die Gerichtsmedizin in Koblenz, dann sehen wir weiter.“
Als Margarethas Mutter den Kaffee einschenkte, bemerkte Decker, dass ihre Hand zitterte.
Kommissar Decker, war gerade fertig mit seinem Essen als sich Fritsche zu ihm setzte.„Harry das Ergebnis aus Koblenz ist da“
„Na, dann lass mal hören.“
„Also, die Leiche ist männlich, war circa 30 Jahre alt und ist zwischen 1940 und 1945 zu Tode gekommen. Und jetzt halt dich fest. Die Medizinmänner haben Spuren von Zyankali in den Knochen nachgewiesen.“
„Viele Nazis haben sich damals mit Zyankalikapseln umgebracht“, Decker nahm einen Schluck aus seinem Glas, „aber dass einer im Wald sein Grab schaufelt, sich reinlegt und dann vergiftet ist doch eher unwahrscheinlich. Ich denke wir haben es mit Mord zu tun.“
„Mann, oh Mann wie sollen wir denn nach rund 60 Jahren einen Mord ermitteln?“
„Das weiß ich auch nicht. Wir müssen im Archiv wühlen wer damals als vermisst gemeldet wurde. Vielleicht finden wir ja einen Hinweis. Was ist denn mit der DNA?“
„Solange wir keinen Vergleich haben, hilft uns das nicht weiter.“
Decker stand auf, „Wir müssen die Alten fragen. Ich weiß auch schon wo wir anfangen.“
Obwohl die dreiundachtzigjährige Margot erzählte, der Baron hätte sie damals verlassen und sei zurück in seine Heimat gegangen, war Decker überzeugt, dass es sich bei dem Skelett um den Baron handelte. Bereitwillig stimmte Margaretha zu, als er eine Speichelprobe von ihr wollte. Nach einer Woche rief ihn Margaretha an und lud ihn zum Essen ein. Das hatte sie seit zwanzig Jahre nicht mehr gemacht und er freute sich darauf.
Auf dem Weg zu ihr rief ihn Fritsche im Auto an: „Hallo Harry. Ich habe das Ergebnis der DNA.“
„Und was ist, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„Also fest steht, die Leiche ist nicht der Vater von Margaretha Helmer.“
Während des Essens sprachen sie kaum. Zufrieden lehnte er sich zurück und wartete auf die Erklärung für seine Einladung. Sie räumte das Geschirr ab und stellte Decker noch eine Flasche Bier und eine Flasche Moselfeuer auf den Tisch.
„Heribert ich erzähle dir nun eine Geschichte. Nur einmal und sonst nie mehr. Nicht mehr dir und schon gar nicht irgendjemand sonst.“
„Lass hören, ich bin sehr gespannt.“
Margaretha, lehnte sich etwas zurück. Decker spürte, sie war nicht so locker wie sie sich gab.
„Der Baron war mein Vater. Er war Russe und Jude. Meine Mutter und er liebten sich sehr. Er hatte ein großes Vermögen in Russland und war in Essen an einer Gießerei beteiligt. Als ich geboren wurde, hatte er meiner Mutter und mir dieses Haus hier gebaut. Weil in der Stalin-Aera der Boden für ihn zu heiß wurde, brachte er nach und nach seine wertvollen Ikonen nach Deutschland. Das ging auch gut. Aber es gab da einen Bürgermeister, mit dem er befreundet war und dem er vertraute. Das war ein Fehler. Denn statt ihn zu schützen, das hätte er in seiner Position gekonnt, fing er an, meinen Vater zu erpressen. Erst eine Ikone. Dann wurde er immer gieriger, bis er schließlich alle hatte. Mein Vater hätte vielleicht noch fliehen können. Aber wohin? Und meine Mutter wollte lieber sterben als ihn gehen zu lassen.“ Sie machte eine lange Pause und sagte. „Und diesen Nazi habt ihr jetzt gefunden.“
Decker wurde es schwindlig. Er wusste nicht, war es das Bier oder die Geschichte, die ihm gerade erzählt wurde. „Was ist aus den Ikonen geworden?“ fragte er.
„Die sind zusammen mit dem Baron in eurer Scheune verbrannt.“
„Und das soll ich dir glauben?“ fragte er.
„Du brauchst nur deine DNA mit der des Skeletts vergleichen“, antwortete sie. „Du hast die Wahl zwischen der Anklage meiner Mutter und dem Ruf deines Vaters.“
Decker lehnte sich zurück, schenkte sich das Glas Moselfeuer bis zum Rand ein und trank es in einem Zug leer.
Am nächsten Morgen brachte er den Vorgang ins Archiv und begrub ihn unter einem Berg anderer Akten.

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